Hamburg. Maria zog nach Problemen mit ihren Eltern in eine betreute Wohngemeinschaft. Doch statt hier zur Ruhe zu kommen und sich auf die Schule zu konzentrieren, fing die damals 13-Jährige an zu trinken. Zwei Jahre später unternahm sie einen ersten Entzug auf einer geschlossenen Station. Wieder in ihrem gewohnten Umfeld angekommen, begann sie Drogen wie Crack zu nehmen. Nach vier Selbstmordversuchen kam sie zunächst in die Psychiatrie. Heute lebt die Jugendliche in einem Therapie-Haus. Hinter ihrer Sucht steht eine inzwischen diagnostizierte Depression. Doch Maria hat ihr Leben mittlerweile im Griff. Der strukturierte Alltag und eine gute medikamentöse Einstellung haben ihr geholfen. In vier Stufen werden die Jugendlichen im Therapie-Haus auf ein Leben nach der spezialisierten Einrichtung vorbereitet. Maria hat – nach anfänglichem Widerstand – alle durchlaufen und zieht erneut in eine Wohngruppe. Sie freut sich auf mehr Freiheit und Eigenverantwortung.
Progammierte die App: Das 2016 erst 16-jährige Gründungsmitglied Nick Wüsthoff (Vorstandsmitglied) und Initiator Oliver Kröger, Erzieher/Fachkraft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Vorstandsmitglied des Vereins. Foto: Between The Lines
Nimmt stellvertretend für den Verein den HanseMerkur Kinderschutzpreis 2020 (Annerkungspreis) entgegen: Nikolai Michael Boll ist als Projektleiter Fundraising & Partnerships ehrenamtlich tätig für Between The Lines e.V. Foto: Michaela Kuhn
Dies ist eine von vielen Mutmach-Geschichten, die in der App des Vereins Between The Lines e.V. erzählt werden. Die Digitale Hilfeplattform für Jugendliche in Problemsituationen ist notwendiger denn je, wie der DAK Kinder- und Jugendreport 2019 zeigt: 26 Prozent aller jungen Menschen in Deutschland leiden unter psychischen Problemen. 82 Prozent von ihnen haben keinen Kontakt zu Hilfeeinrichtungen. Dabei prägen Kindheit und Jugend maßgeblich die psychische Entwicklung im Erwachsenenalter. Wer als Kind oder Jugendlicher unter seelischen Problemen leidet, ist als Erwachsener stärker gefährdet, psychisch zu erkranken. Mehr als die Hälfte aller mentalen Erkrankungen entsteht bereits vor dem 19. Lebensjahr. Die häufigsten Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen sind neben Angststörungen, Depressionen und Hyperaktivität dissoziale Störungen, wie dauerhaft aufsässiges und aggressives Verhalten.
Der im Jahr 2016 gegründete Between The Lines e.V. entstand durch eine Initiative von Oliver Kröger, Erzieher/Fachkraft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Vorstandsmitglied des Vereins. Seit 15 Jahren ist er in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig. Ohne konkrete Vorstellungen davon, wo ihre Reise sie hinführen würde, hatte Kröger mit neun Mitgliedern des Jugendstadtrates Solingen eine Projektgruppe gegründet, wollte wissen, was Jugendliche bewegt und wo sie Hilfe suchen. Sein pädagogischer Ansatz: Empowerment – Jugendlichen Hilfe zur Selbsthilfe geben. Das Ziel war es, ein besonders niedrigschwelliges und anonymes Format zu finden. Schnell entstand die Idee einer Hilfe-App für die Zielgruppe. Das Projekt fand starke Unterstützung der Jugendförderung der Kommune. Bereits im Frühjahr 2018 war der erste Prototyp programmiert und mit den geplanten Inhalten gefüllt. In der kostenlosen App wurden zunächst Anlaufstellen und Hilfsangebote in der Stadt publiziert und Tipps zu verschiedenen Handlungssträngen in komplexen Krisensituationen aufgezeigt. Das Themenspektrum reichte von Problemen innerhalb der Familie und Mobbing-Situationen über Stress in der Schule bis hin zu Drogenproblemen. Obwohl für die App keinerlei Werbung gemacht wurde, zählte das Team 1.500 Downloads in den ersten sechs Monaten. Der Bedarf war also offensichtlich da und die Anwendungssoftware das richtige Medium.
Das 2016 erst 16-jährige Gründungsmitglied Nick Wüsthoff (Vorstandsmitglied) hatte die App programmiert und damit die Zielrichtung des Vereins gesetzt. Nach seinem Schulabschluss studierte Wüsthoff an der CODE University of Applied Sciences, einer privaten, staatlich anerkannten Fachhochschule für digitale Produktentwicklung in Berlin. Für den Verein ein Glückstreffer, denn das Studium erfolgt auf Projektbasis. Wüsthoff wählte natürlich die Weiterentwicklung von Between The Lines als Thema und bildete ein Product-Team gemeinsam mit Darleen Zumbruch (UX-Designerin) und Pablo Schleßelmann (Backend Developer). Er selbst übernahm das Produktmanagement, relaunchte mit dem Team innerhalb eines Jahres die gesamte Plattform und stellte sie auf neue, professionellere Beine. 2020 übergab er sein Amt an Beat Weichsler (Vorstandsmitglied/Head of Product).
Weichsler strukturierte das gesamte Projektvorhaben maßgeblich. Er etablierte professionelle Standards und bildete gemeinsam mit Kröger und Wüsthoff ein über 30-köpfiges Experten-Team junger Menschen aus den Fachbereichen IT-Entwicklung, Web Design, Marketing, Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik und Wirtschaftsinformatik. Das gesamte Team arbeitet kontinuierlich – und meist ehrenamtlich – an der Aktualität und der Weiterentwicklung aller entwickelten Plattformen. So konnte beispielsweise durch die jüngste Kooperation mit dem Verein Hilfe fairMitteln e.V. das Angebot von Between the Lines mit einem intelligenten Chatbot, genannt „Botti“, ergänzt werden. „Wir konnten die Kommunikation für Kinder und Jugendliche noch weiter vereinfachen, da sie dank ‚Botti‘ direkt die passgenauen Hilfeangebote aus der Between The Lines-Datenbank erhalten“, erklärt Weichsler dieses geplante Tool. Das Preisgeld bringt die Arbeit des jungen Vereins erneut einen wichtigen Schritt voran. Geplant ist, die App/WebApp in einem gesamten Bundesland zu launchen: „Damit werden wir viele weitere tausende Jugendliche erreichen können“, freut sich Wüsthoff. „Wir haben unser Ziel sehr klar vor Augen. Schaffen wir es mit unserer App Jugendlichen frühstmöglich zu helfen, sie in ihrer Autonomie und psychischen Gesundheit zu stärken, hat dies positive Folgen für deren gesamten Leben!“
Dank abgeschlossener Verträge mit einzelnen Kommunen sowie Spenden zur Finanzierung des Vorhabens ist Between The Lines Inzwischen regional verfügbar in Düsseldorf, Braunschweig, Wuppertal, Solingen, dem Hochtaunuskreis und dem Rhein-Kreis Neuss. Zusätzlich zu der lokalen Hilfe vernetzt die App jedoch auch mit digitalen Anlaufstellen, die sich an junge Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet richten. „Wir bieten Jugendlichen digital, kosten- und werbefrei sowie niedrigschwellig und zeitgemäß eine Content-Plattform mit validierten Informationen zu altersspezifischen Problemen.
„Umfassender Kinder- und Jugendschutz ist wichtig wie nie: Denn Corona hat junge Menschen und ihre Not oft unsichtbar gemacht“
Praxis ohne Grenzen (PoG) Hamburg e.V. erhält für das Projekt „Kindersprechstunde in der PoG“ Hamburg den HanseMerkur Hauptpreis für Kinderschutz 2020
Die Stiftung Kultur Palast aus Hamburg erhält für das Projekt „HipHop Academy“ den HanseMerkur Preis für Kinderschutz 2020 (Anerkennungspreis)
erhält den HanseMerkur-Kinderschutzpreis 2020
Der Dresdener Kinder- und Jugendhilferechtsverein e.V. erhält für sein Projekt „House of Dreams. Careleaverzentrum und Careleaverarbeit in Sachsen“ (Anerkennungspreis)
Nutzer erhalten wichtige Hinweise, können ihr Problem deutlich klarer einordnen und bekommen einen einfachen Zugang zum Jugendhilfesystem“, berichtet Kröger über den Ansatz der App. „Damit erhalten Jugendliche eine besondere Möglichkeit, autonom ihren nächsten Handlungsschritt zu planen und zu gestalten.“ 34 Schwerpunkt-Themenfelder bedient das digitale Tool aktuell. Die Hilfesuchenden finden neben nützlichen Tipps und Hinweisen auf Hilfsangebote auch Erklär-Videos und Interviews sowie immer wieder auch Mutmach-Geschichten wie die von Maria.
Die App des Vereins Between The Lines e.V. ist bundesweit in ihrer Form ein musterhaftes Pilot-Projekt und leistet Pionierarbeit im Bereich der digitalen Jugendhilfe. „Unsere App wurde von Jugendlichen selbst entwickelt und präsentiert sich somit absolut zielgruppengerecht. Gleichzeitig sind wir das erste bundesweite Projekt, das eine zentrale Datenbank aller Hilfsorganisationen der Jugendhilfe erstellt, die sich fachspezifisch und direkt an die Zielgruppe richten“, erläutert Kröger die Alleinstellungsmerkmale des Angebotes.
Between the Lines e.V. erhält für das Projekt „Digitale Hilfeplattform für Jugendliche in Problemsituationen“, den HanseMerkur Preises für Kinderschutz 2020 (Anerkennungspreis), der mit 10.000 Euro dotiert ist.