Wenn Kinder zu Opfern von sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung werden, hat das massive Folgen für ihr Aufwachsen, für die kommenden Jahre, für ihr ganzes Leben. Da die Gewalt in ihre prägenden Jahre einbricht, kommt es nicht nur zu physischen Schädigungen, sondern – und das ist der fatalere Aspekt – zu Entwicklungsstörungen. Der brutale Bruch in der jungen Vita führt zu mangelndem Selbstvertrauen, gestörtem Selbstwertgefühl und Bindungsstörungen. Mittelfristig können sich psychische Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen oder auch Zwangsneurosen ausbilden. Die Zukunft für die jungen Gewaltopfer ist vielschichtig reduziert. Hilfe erhalten sie in der Ärztlichen Kinderschutzambulanz Bergisch Land e.V. Hier finden die Kinder Schutz. Es wird genauestens diagnostiziert, was geschehen ist, wer die Täter sind und eine gezielte Therapie entwickelt.
Freuen sich über die Auszeichnung: Ärztliche Kinderschutzambulanz Bergisch Land E.V. bei der Preisverleihung
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Kreative Beschäftigung und Maltherapien helfen beim Aufbau von Beziehung zum Therapeuten und bei der Bewältigung missbräuchlicher Erfahrung.
Die Mitglieder der Ärztliche Kinderschutzambulanz Bergisch Land E.V. bei der Preisverleihung
Etwa 400 betroffene Kinder und Jugendliche betreut die Kinderschutzambulanz Bergisch Land e.V. auf dem Gelände der Sana-Klinik in Remscheid pro Jahr. Hier engagieren sich Therapeuten, Mediziner, Neurologen und Juristen. Durch die Kooperation mit dem Klinikum können bei Bedarf weitere Fachbereiche wie die Kinder-Gynäkologie, -Chirurgie oder das sozialpädiatrische Zentrum hinzugezogen werden. Die Mediziner versorgen unterernährte und vernachlässigte Kinder, sie behandeln Brüche, Verbrennungen oder die Folgen von Strangulationen, sehen Anal- oder Genitalverletzungen.
Vorkommnisse wie die Missbrauchskomplexe in Münster, Lügde oder Bergisch Gladbach bringen auch die Mitarbeitenden der Ambulanz an ihre Grenzen: „In allen drei Fällen ging es um Kinder, die von den eigenen Angehörigen sexuell missbraucht oder fremden Pädo-Kriminellen zum Missbrauch angeboten wurden. Ihr unfassbares Leid wurde auf Videoaufnahmen festgehalten, die in der Anonymität des Darknets um die Welt gingen und wohl auch noch immer gehen. Die Zahl der Konsumenten ist so groß, dass man damit Stadien füllen könnte“, berichtet Birgit Köppe-Gaisendrees , Leiterin der Kinderschutzambulanz.
Die Schrebergartenanlage „Am Bergbusch“ liegt am nördlichen Rand von Münster. Wie alle anderen 75 Parzellen ist auch der Kleingarten rund um eine Laube vorbildlich gepflegt. Und doch befindet sich hier ein Tatort. Vier mittlerweile verurteile Straftäter aus drei Bundesländern haben drei Jungen, sie waren gerade mal fünf, zehn und zwölf Jahre alt, abwechselnd über Stunden auf das Schlimmste missbraucht. Was die Jungen erleiden mussten, sei Folter, sagte der zuständige Ermittler in einem Interview. Perfide auch: Eine Mutter wusste von dem andauernden Missbrauch. Auch sie wurde mittlerweile verurteilt. Wenige Monate zuvor war in Bergisch-Gladbach ein riesiges Missbrauchsnetzwerk aufgedeckt worden. Das Team der Kinderschutzambulanz betreute einige der betroffenen Kinder. „Selbst nach 30 Jahren in diesem Job habe ich mir das Ausmaß meiner eigenen Betroffenheit nicht vorstellen können. Kleinste Kinder sind hier subtil auf perverseste Form langsam an den Missbrauch herangeführt worden“, berichtet Birgit Köppe-Gaisendrees über diese Taten.
„Unsere Hauptaufgabe ist dann die Diagnostik. Ziel ist es zu erkennen, was den Kindern zugestoßen ist, wie belastet sie sind und wie man ihnen weiterhelfen kann. Wir arbeiten mit einem breiten Spektrum von der Einzeldiagnostik über Interaktionsbeobachtung bis zu psychodiagnostischen Testungen. Zudem ist eine stationäre Aufnahme von Säuglingen und Kleinkindern gemeinsam mit einem Elternteil, das sogenannte Nesting, zur Unterstützung und Einschätzung der Versorgungsfähigkeit möglich.“ In der Regel vermittelt die Kinderschutzambulanz die Null- bis 18-jährigen Opfer mit einer umfänglichen Diagnose an einen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychologen. Wenn die Schädiger aber aus der eigenen Familie kommen, ist eine Inobhutnahme unumgänglich. Bei schwerem Missbrauch gibt es die Möglichkeit, sie in der benachbarten Sana-Klinik unterzubringen oder auch in einer Kurzzeitpflegestelle.
Die Arbeit der Kinderschutzambulanz beginnt auf Anfrage durch das Jugendamt bzw. Familiengericht. Das engagierte Team arbeitet somit nicht im Bereich der Freiwilligkeit und auch die Analyse der Erziehungsfähigkeit erfolgt auf Anordnung. Basis für die Diagnostik ist es, eine Beziehung zu dem Kind aufzubauen und herauszufinden, was es an (Gewalt-)Erfahrungen mitbringt. Kreative Beschäftigung und Maltherapien helfen beim Aufbau einer Beziehung. Betrachtet man die Kinderzeichnungen, ist in vielen Fällen kaum Raum für Interpretationen: ein Mädchen, das einen Penis zwischen ihren Beinen hat und um Hilfe ruft; eine Familie, in der der Vater mit mürrischem Gesicht übergroß über allen anderen steht, während die Mama so klein ist wie die kleinen Geschwister. Dann die Bilder eines verstummten Mädchens: Alle Darstellungen erzählen die Geschichte jahrelangen Missbrauchs. Immer ist der Täter in verschiedene Tiere umgewandelt, vielleicht, um alles etwas erträglicher zu machen.
Ein Schwerpunkt der Kinderschutzambulanz sind schwere Kindesvernachlässigungen. Häufig werden die Betroffenen in Pflegefamilien untergebracht. Doch die Eltern auf Zeit wissen nicht immer mit den Nöten der Kinder umzugehen. Birgit Köppe-Gaisendrees berichtet von einem fünfjährigen Jungen, der mittlerweile in seiner siebten Pflegefamilie lebt. „Die letzten Pflegeeltern gaben ihn nach einem halben Jahr Aufenthalt in ihrer Familie an einem Freitagnachmittag ohne Vorankündigung beim Jugendamt ab. Er wurde kurzfristig aus der Not heraus auf der Kinderstation untergebracht. Nach einigen Tagen griff er hoch sexualisiert den Schwestern ins Dekolleté. Der Grund lag in der Angst, am nächsten Tag seine neuen Pflegeeltern kennenzulernen. Er sagte dazu ‚Morgen kommen sie ja und dann soll ich die kennenlernen, aber mich will ja sowieso keiner‘. Davon war der Fünfjährige überzeugt.“
Das Team der Kinderschutzambulanz erlebt einen Alltag, der für die meisten von uns schwer zu ertragen wäre. Und doch gibt es auch viele kleine Erfolge, Momente des Glücks: „Vor Jahren“, berichtet Köppe-Gaisendrees, „kam ein zehnjähriges Mädchen nach schwerem Missbrauch durch ihren Vater zu uns. Sie galt als lernbehindert. Auf unsere Frage, ob sie noch etwas für den Abend brauche, wünschte sie sich Opern zum Einschlafen. Jahre später habe ich eine Einladung zu ihrer Abiturfeier bekommen. Ich habe dort unablässig geweint – vor Glück!“
Es ist schwer vorstellbar, dass die Arbeit des Vereins auf Spenden angewiesen ist, doch die Betreuungs-Regelsätze reichen bei weitem nicht aus, um den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. Und der Bedarf wächst: „Aufgrund der steigenden Fallzahlen ist eine Umstrukturierung der Therapie- und Büroräume erforderlich, da mehr Kinder gleichzeitig gesehen werden müssen und sollen, und das Projekt räumlich an seine Grenzen kommt. Bei diesem notwendigen Vorhaben ist die finanzielle Unterstützung durch den HanseMerkur Preis für Kinderschutz sehr wertvoll“, so Birgit Köppe-Gaisendrees. Das große persönliche Engagement des Teams, das sich mit viel Empathie um die jungen Trauma-Opfer bemüht, macht die Kinderschutzambulanz Bergisch Land e.V. zu einem Leuchtturm-Projekt. Der Verein ist ein vorbildlicher Hauptpreisträger des HanseMerkur Preises für Kinderschutz 2020, der mit 20.000 Euro dotiert ist.