Medizinische Betreuung für Kinder ohne Krankenversicherungsschutz

Praxis ohne Grenzen (PoG) Hamburg e.V. erhält für das Projekt „Kindersprechstunde in der PoG“ Hamburg den HanseMerkur Hauptpreis für Kinderschutz 2020

Hamburg, Dezember 2021 - Noch immer gibt es in ganz Deutschland Menschen, die keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben, da sie nicht krankenversichert sind. 2019 waren es laut Mikrozensus 143.000 Menschen, die ohne diesen Schutz in Deutschland leben. Sozialverbände weisen zudem immer wieder darauf hin, dass Obdachlose und illegal Eingewanderte ebenfalls nicht in unserem Gesundheitssystem aufgefangen werden – die Statistik erfasst sie nicht. Schätzungen gehen von insgesamt weit mehr als 1,5 Millionen Menschen aus. Unter ihnen auch viele Kinder. Es sind Kinder, die nach Jahren der Flucht, der Entbehrung, des Hungerns und traumatisierender Kriegserlebnisse nach Deutschland gelangten. Sie leben am Rande der Gesellschaft, unauffällig, unversichert. Ein normalerweise harmloser Infekt, eine Durchfallerkrankung oder ein Unfall können für diese Kinder gravierende Folgen haben, sogar tödlich enden, wenn sie nicht gezielt behandelt werden. Doch meist fehlt das Geld, die Kosten zu tragen. Hinzu kommt die Angst vor Entdeckung und Abschiebung.

Prof. Dr. med. Peter C. Ostendorf, emeritierter Chefarzt für Innere Medizin im Hamburger Marienkrankenhaus und Gründer der „Praxis ohne Grenzen (PoG)“, kennt die Sorgen und Nöte dieser Menschen. „Ich habe ein so privilegiertes Leben, durfte als Mediziner so viele spannende Zeiten und Fortschritte erleben. Jetzt möchte ich als Rentner der Gesellschaft etwas zurückgeben.“ Im Mai 2014 öffnete die „Praxis ohne Grenzen“ erstmals ihre Türen. Zunächst in Horn im Bezirk Hamburg-Mitte, aktuell ist sie in Hamburg-Eidelstedt beheimatet. Immer mittwochs von 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr behandeln Prof. Ostendorf und sein Team, bestehend aus etwa 80 Ehrenamtlichen, dort jeweils bis zu 200 große und kleine Patienten. 


An einem Nachmittag werden in der Kindersprechstunde durchschnittlich 15 Kinder  von renommierten Medizinern kostenlos und auf Wunsch auch anonym behandelt. Die Jungen und Mädchen kommen aus Schwarzafrika, Ost-Europa, Syrien, aus den Krisenherden dieser Welt sowie aus Deutschland. Allen ist gemein: Sie haben Schreckliches erlebt. Mohammad (9) leidet noch immer an den Folgen einer Schrapnell-Verletzung in Aleppo. Sahira (7) lässt ihre Brandverletzungen behandeln, die sie bei einem Feuer in ihrem Dorf im Somalia erlitt. Eva (11) kommt aus Deutschland. Eine Firmen-Insolvenz ihres Vaters riss das Mädchen aus ihrem behüteten Heim. Nun wohnt die Familie im Haus der Großmutter auf 34 qm, der Vater ohne Job, die zwei kleinen Kinder nicht mehr in der gewohnten Kita – und ohne Krankenversicherung. Für Eva und ihre Familie ein schambesetztes Thema, das alle sehr belastet. Eva wird heute gegen Masern geimpft.


Prof. Ostendorf hat die Praxis ohne Grenzen breit aufgestellt, den Patienten stehen zahlreiche Fachrichtungen zur Verfügung: Innere Medizin, Gynäkologie, Kinderheilkunde, Chirurgie, Orthopädie, Dermatologie, Augenheilkunde, HNO, Neurologie und Zahnheilkunde. So verfügt die Praxis-Klinik über allein drei Zahnärzte, die sich auch um die Kleinsten bemühen. Viele der Kinder haben zudem kieferorthopädische Probleme, die aus Kosten- und Zeitgründen nicht hier betreut werden, da die fachgerechte Korrektur der Zahnstellung oft Monate dauert. Doch irgendwie finden die Mitarbeiter – alle durch langjährige Tätigkeit bestens vernetzt in die Hamburger Gesundheitswirtschaft – immer eine Lösung. 

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Das Angebot in der Praxis ohne Grenzen bietet noch viel mehr für die Kinder, aber auch deren Eltern. Neben Laborleistungen wie Blut- und Urinuntersuchungen oder der Diabetes-Beratung gibt es auch Unterstützung durch Ehrenamtliche, die sich um akute Problemlagen, Antragsstellungen bei Krankenkassen, aufenthaltsrechtliche Beratung bei Drittstaatlern und vieles mehr kümmern. Susan Weichenthal, Geschäftsführerin der Evangelischen Auslandsberatung, führt bis zu 20 Gespräche pro Behandlungstag, um Gelder für Therapien oder Operationen zu beschaffen, aber auch, um Menschen wieder in das soziale System zurückzuführen.


Prof. Ostendorf, Kinderärztin Dr. Hamila Schultz und Prof. Dr. med. Frank Riedel, ehemaliger Leiter des Altonaer Kinderkrankenhauses, betonen das hohe medizinische Niveau der Praxis ohne Grenzen, auch wenn diese ausschließlich über Spenden finanziert wird. So sehr das Praxisteam das Budget auch zusammenhalten muss, für Prof. Ostendorf gilt die Maxime: „Keine armen Geräte für arme Leute.“ Der jährliche Finanzbedarf liegt bei rund einer Viertel Million Euro.


„Wir wissen, dass es viele Kinder in ganz Deutschland gibt, die ohne Krankenversicherung in unserem ach so reichen Land leben. Aber niemand kennt die genauen Zahlen.“ Um die Politik zu überzeugen, diese Kinder in das Sozial- bzw. Krankenversicherungssystem aufzunehmen, plant der engagierte Professor, mit der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften ein Gutachten zu erstellen. Es soll als belastbare Grundlage für die Diskussion mit der Bundesregierung dienen, um einen automatischen Krankenversicherungsschutz für alle Kinder, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrer aktuellen Situation, zu erreichen. Ein ausführliches Rechtsgutachten durch einen ehemaligen Vorsitzenden Richter am Bundessozialgericht – erstellt für die PoG – zeigt darüber hinaus den rechtlich gangbaren Weg auf zu einer klaren Eingliederung unversicherter Kinder, wohnhaft in der BRD, in die Gesetzliche Krankenversicherung. „Im Grunde wollen wir uns überflüssig machen“, fasst es Hamila Schulz zusammen.


Die Praxis ohne Grenzen mit ihrem höchst engagierten Team bemüht sich mit viel Engagement und von ganzem Herzen um jene Kinder, die im Schatten unserer wohlhabenden Gesellschaft leben. Das Team um Prof. Dr. Peter Ostendorf lindert ihre Erkrankungen, hilft ihnen in Notsituationen und nimmt ihnen die Scham vor ihrer Armut. Die Einrichtung schließt eine Lücke in unserem Gesundheitssystem. Denn für Kinder ist eine gute medizinische Gesamtbetreuung mit Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen sowie die Behandlung ihrer Leiden entscheidend für ihre künftige Entwicklung. Die Praxis ohne Grenzen ist ein hervorragendes Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement. Die „Kindersprechstunde in der PoG“ ist ein absolut würdiger Hauptpreisträger des HanseMerkur Preises für Kinderschutz 2020 (Hauptpreis), der mit 20.000 Euro dotiert ist. 


Prof. Dr. med. Peter C. Ostendorf, Praxis ohne Grenzen - Hamburg (PoG), Projekt „Kindersprechstunde in der PoG“, Fangdickstr. 53, 22547 Hamburg,  Tel.: 040/694 55 91 206, E-Mail: info@praxisohnegrenzen-hh.de