Eine alternde Bevölkerung stellt jeden Einzelnen, aber auch die gesamte Gesellschaft vor besondere Herausforderungen. Jede zweite Frau und jeder dritte Mann in Deutschland wird pflegebedürftig werden. Die Kosten dafür sind immens. Dabei übernimmt die gesetzliche Pflegeversicherung, ähnlich einer Teilkaskoversicherung, immer nur einen Teil der Kosten. Monatlich 1.900 Euro beträgt der durchschnittliche Eigenanteil in einem deutschen Pflegeheim, den ein Pflegebedürftiger aus eigener Tasche zahlen muss. – Wie lässt sich gegensteuern?
Nord Wirtschaft sprach mit Marko Böttger, seit 1. März dieses Jahres Abteilungsleiter Kooperationen betriebliche Pflegezusatzversicherung bei der HanseMerkur. In seiner letzten Funktion verhandelte er u. a. den auch öffentlich viel beachteten Abschluss der betrieblichen Pflegezusatzversicherung beim Düsseldorfer Chemie-Konzern Henkel mit der Bonusagentur der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE).
Herr Böttger, ist das Thema Pflegeversicherung nicht eher ein privates Thema? Warum sollten sich Arbeitgeber damit befassen?
Pflege ist eine der großen sozialpolitischen Heraus- forderungen unserer Zeit: persönlich, staatlich, unternehmerisch.
Inwiefern?
Wenn statistisch betrachtet von 1.000 Mitarbeitern eines Unternehmens 416 irgendwann in ihrem Leben zum Pflegefall werden, betrifft diese Entwicklung nicht nur Mitarbeiter im Ruhestand. 18 Prozent der Pflegebedürftigen sind zwischen 20 und 65 Jahre alt. Zum Problem werden auch die hinzukommenden Pflegefälle in den Familien von Mitarbeitern. Wer sich um pflegebedürftige Angehörige kümmert, fällt entweder als Arbeitskraft aus oder ist aufgrund der finanziellen, physischen und psychischen Belastung nicht mehr voll leistungsfähig. Damit wird das persönliche Problem automatisch zu einem Thema für den Arbeitgeber.
Empfinden es Beschäftigte nicht als übergriffig, wenn sich ihr Arbeitgeber plötzlich um scheinbar private Belange kümmert?
Nein, im Gegenteil. Bei Angeboten von betrieblichen Zusatzversicherungen nehmen Beschäftigte ihren Arbeitgeber erfahrungsgemäß als fürsorglich und verantwortungsvoll wahr. Der Arbeitgeber trägt zur Problemlösung bei. Das stärkt das Vertrauen und trägt nachweislich zur Arbeitszufriedenheit bei. In Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels können Arbeitgeber an dieser Stelle punkten und viel für die Mitarbeiterbindung tun. Das ist für beide Seiten eine Gewinnsituation.
Wie wird sich die Pflegeproblematik aus Ihrer Sicht weiterentwickeln?
Die Lage wird sich eindeutig verschärfen, denn wir leben in einer zunehmend alternden Gesellschaft. Aktuell haben nur 4,6 Prozent der Deutschen für sich eine private Pflegezusatzversicherung abgeschlossen. Die Bertelsmann-Stiftung erwartet in der sozialen Pflegeversicherung bis zum Jahr 2050 etwa 5,5 Millionen Pflegebedürftige. Heute sind es 3,7 Millionen. Die Kosten werden sich von 41 Mrd. Euro pro Jahr auf 181 Mrd. Euro erhöhen. Bei einer sinkenden Anzahl von Beitragszahlern in der sozialen Pflegeversicherung werden die Beitragssätze die in 2019 bereits von 2,55 auf 3,06 Prozent erhöht wurden, auf 4,6 Prozent steigen müssen, um allein das heutige Leistungsniveau aufrechtzuerhalten. Wünschenswerte Verbesserungen sind dabei noch gar nicht berücksichtigt! Mit anderen Worten: Finanzpolitisch ist dauerhaft noch nichts gelöst.
Wer sind die Gewinner und Verlierer dieser Entwicklung?
Verlierer sind eindeutig die Frauen. Sie sind es, die die Pflege in der Familie übernehmen. Werden sie selbst pflegebedürftig, sind die Männer bereits verstorben, und für sie selbst ist kein oder nicht mehr genug Geld da. Gewinner im Sinne Ihrer Frage sind diejenigen, die private Pflegeversicherungen in ausreichender Höhe abgeschlossen haben. Im Pflegefall müssen sie nicht ihr Erspartes opfern und Familienvermögen, das eigentlich für die nächste Generation gedacht war, verbrauchen.
Welche Anforderungen erwachsen daraus konkret an die Absicherung durch private Pflegezusatzversicherungen?
Ähnlich wie in der betrieblichen Altersvorsorge ist ein Drei-Säulen-Modell, bestehend aus der staatlichen, betrieblichen und privaten Pflegevorsorge der Schlüssel zum Erfolg. Hinzu kommt die Absicherung des Partners und der Kinder für dieses existenzielle Risiko. Das ist besonders wichtig, weil durch die finanzielle Absicherung der Familie im Pflegefall auf professionelle Hilfe zurückgegriffen werden kann und der Mitarbeiter dem Unternehmen als wertvolle Arbeitskraft erhalten bleibt. Wenn Arbeitgeber sich dieser Herausforderung aktiv stellen, haben sie viel für ihre Mitarbeiter, ihr Unternehmen, aber auch für die Gesellschaft getan.
Red. NW/JM
Foto: HanseMerkur